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Zu früh für ein Hörsystem?

20.03.2022

Die subjektive Wahrnehmung als wichtigster Faktor bei einer Hörsystem-Anpassung.

Meine Berufserfahrung in der Hörakustik hat mich gelehrt, den Kunden niemals nur über Zahlen zu beurteilen. Sie bilden zwar eine solide Basis und sind absolut notwendig, um seriös zu arbeiten. Und jetzt kommt das ABER: sie geben keine Auskunft über die Gefühlslage des Menschen.

Subjektivität bedeutet, dass jeder Mensch seine Umwelt individuell wahrnimmt. Die subjektive Wahrnehmung basiert auf dem Gefühl, der eigenen Ansicht und Erfahrung. Im Gegensatz dazu beruht die Objektivität auf der sachlichen, neutralen Ebene und auf Fakten.

Zurück zur Hörakustik. Als objektiver Betrachter eines Hörtestergebnisses sehe ich, ob ein Hörsystem notwendig ist oder eben nicht. Ein sehr leichter Hörverlust kann einen Akustiker dazu verleiten, den Kunden mit den Worten -es ist noch zu früh- nach Hause zu schicken. Insbesondere, weil eine solche Hörsystem-Anpassung sehr zeitintensiv und herausfordernd sein kann. In einem solchen Fall darf der erfahrene Akustiker nie vergessen, dass der Besuch des Kunden einen Grund hat: ein Hörproblem.

Spätestens jetzt sollte das Interesse dem Menschen vis-à-vis gelten. In welchen Situationen fühlt sich der Kunde unwohl? Vielfach handelt es sich um gesellschaftliche Aktivitäten. Oder um mangelndes Verstehen bei der Arbeit. Die Problemschilderung deckt sich meist mit der von stark hörbeeinträchtigten Personen. In unserem Fall ist der Kunde schlicht hörsensibel, das heisst er hat hohe Anforderungen an sein Gehör.

Diesen Kunden rate ich zu einem Probetragen von Hörgeräten. Sie können genauso wie jede andere Person von einer Hörhilfe profitieren. Die Annahme, dass in solchen Fällen ein einfaches, zweckmässiges Hörsystem reicht, ist nicht ganz berechtigt. Gerade hörsensible Menschen reagieren auf feinste Nuancen in der Einstellung der Geräte. Solch differenziertes Hören kann oft nur mit Hörsystemen der oberen Preisklasse garantiert werden. Aber auch hier muss die subjektive Wahrnehmung übergeordnet werden. Dazu habe ich ein schönes Beispiel aus meiner Tätigkeit.

Die Kundin ist 69 Jahre alt und hat einen sehr geringen Hörverlust. Sie bemängelt jedoch ihr Hörverstehen vor allem in Gruppierungen und beim Fernsehen. Mit höherer Lautstärke versteht sie nicht besser. Die Kundin ist sehr motiviert und wünscht ein Probetragen. In der Folge testet sie drei verschiedene Hörsysteme über einen längeren Zeitraum der mittleren und unteren Preisklasse. Da ihr Hörverlust zu gering ist, wird sie von der AHV finanziell nicht unterstützt und wir orientieren uns an ihrem Budget.

Mit den schlussendlich ausgewählten Hörgeräten ist die Kundin glücklich. Sie versteht ihre Enkel und Kinder besser und kann sich generell an Gesprächen aktiv einbringen. Beim Fernsehen profitiert sie vom Direktstreaming auf das Hörsystem. Ebenso wie beim Telefonieren. Beim Fahren mit dem Postauto unterhält sie sich trotz störender Fahrgeräusche mit ihrem Sitznachbar.

Die positive Rückmeldung der Kundin macht auch mich glücklich. Es ist nie zu früh oder zu spät für ein Hörgerät. Aber nicht jedes Probetragen endet mit einem Kauf. Der Versuch hingegen ist es immer wert.

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