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Mut zur Reise

12.11.2025

Joachim Reich zählt stolze 97 Jahre. Trotzdem oder gerade deshalb lässt er es sich nicht nehmen, seinen Enkel in Irland zu besuchen. Zusammen mit seinem Sohn, dessen Frau und ihrer Mutter. Eine bunte Truppe, die sich von der grünen Insel bezaubern lässt.

Dass er sich in diesem Alter noch einmal in ein Flugzeug setzt, hätte Joachim Reich nicht gedacht. In jungen Jahren war er oft unterwegs, Kanada und England hatten es ihm angetan. Damals konnte die geplante Reiseroute auch mal spontan geändert werden, Vorbereitung hat es keine gebraucht. Ausser, dass sich der Jungspund gerne mit der Geschichte und Sehenswürdigkeiten des zu bereisenden Landes vertraut gemacht hat.

Dagegen musste die Reise nach Irland gut überdacht und entsprechend organisiert werden. Das hat Joachim Reichs Sohn mit seiner Frau übernommen. Nicht nur die Unterkunft und Automiete, sondern eben auch den Transport innerhalb des Flughafens. Wobei ihr Reisewille arg auf die Probe gestellt wird. Denn am Schalter teilt man ihnen nach langer Wartezeit mit, dass infolge Personalmangel die beiden älteren Flugpassagiere leider nicht zum Gate transportiert werden könnten. In der Not verlangen sie zwei Rollstühle und die beiden «Alten», wie Herr Reich sich und die Mutter seiner Schwiegertochter gerne nennt, setzen sich hinein. Nun drängt die Zeit, in zwanzig Minuten startet das Flugzeug. Und so werden die älteren Passagiere von ihren Kindern rennend zum Gate geschoben. Wobei die beiden die rasante Fahrt geniessen und aus vollem Halse lachen. Glücklicherweise treffen sie eine Minute vor dem Abflug ein und lassen sich ausser Atem auf ihre Sitze fallen. In Dublin angekommen, fahren sie mit dem Mietauto quer durch Irland nach Cong Abbey. Dort werden sie vom Enkel empfangen, der im Hotel an der Reception arbeitet und sie deshalb in dem 5 Sterne-Luxusresort unterbringen konnte.

Während rund einer Woche unternehmen sie vom Enkel organisierte Ausflüge. Sie weilen an und auf dem See «Lough Corrib» bei einer Schiffstour, besuchen die Stadt und bewundern all die schönen Dinge, die es zu kaufen gibt. Besonders beeindruckt Joachim Reich ihr Hotel, das Ashford Castle aus dem 19. Jahrhundert. Begeistert saugt er die dazugehörende Geschichte auf und es stimmt ihn wehmütig, dass er sich im Vorfeld generell nicht mit der Geschichte Irlands befassen konnte. Die grüne Weite des Landes fasziniert ihn genauso wie das Leben auf Null Meter über Meer. Die dortigen Bauern besitzen meist nicht mehr als zwanzig Schafe, die sich auf einem riesigen Stück Land tummeln. Wenn es regnet, kriegen nicht nur die Schafe nasse Füsse, sondern auch die Menschen auf den Strassen, denn das Wasser fliesst auf der nicht vorhandenen Meereshöhe nicht gut ab.

Joachim Reich schätzt die Gastfreundlichkeit der Iren und ihre Unkompliziertheit. Wenige Minuten nach ihrer Ankunft im überfüllten Pub, wird ihm und seinen Begleitern ein Platz angeboten. Da in Irland seit dem Jahr 2004 Rauchverbot herrscht, geniesst er die Atmosphäre in den Restaurants und gönnt sich, ganz wie die lokale Sitte es verlangt, ein Bierchen. Im Vergleich zu den Einheimischen jedoch immer nur ein kleines.

Mit seinen fast hundert Jahren ist Joachim Reich auf Gehstöcke angewiesen und trägt Hörgeräte. Leider spielt ihm die Technik einen Streich und ein Hörgerät fällt während der Reise aus. Als genügsamer Mensch reicht ihm der einseitige Empfang völlig aus und er fühlt sich dadurch nicht eingeschränkt. Auch sein Mobiltelefon bleibt irgendwo in Irland liegen. Ansonsten verläuft alles glatt. Nach einigem Suchen findet er sogar eine Tabakpfeife als Andenken an das rauchfreie Land. Nur den Tabak muss er in Chur kaufen.

Den Urlaub empfindet der ehemalige Reisevogel als ein Spagat zwischen Genuss und Anstrengung. Die vielen Eindrücke fordern ihren Tribut und um 21.00 Uhr herrscht Nachtruhe. Mit Wehmut erinnert er sich an seine frühere Selbstbestimmtheit, seine Vitalität. Gleichzeitig ist er voller Dankbarkeit seiner Familie gegenüber. Ohne ihre Organisation, ihr Engagement und Fürsorge, hätte er eine solche Reise niemals antreten können. «Man muss zufrieden sein, wenn die anderen alles machen, Hilfe annehmen können und geduldig irgendwo höckeln, bis es weitergeht.», meint Joachim Reich. Ihm ist bewusst, dass sein Sohn und dessen Frau viel Aufwand hatten und immer Rücksicht auf die beiden «Alten» genommen haben. Auf eine erneute Initiative seines Sohnes hin, würde er aber wieder auf Reisen gehen. Er hätte Irland gerne früher kennengelernt und mehr davon gesehen. Trotzdem ist er zufrieden, wieder zuhause zu sein und lässt die schönsten Momente Revue passieren.

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