Der Neni
13.12.2020
Neni mag Weihnachten. Es ist das Schönste für ihn, wenn die ganze Familie sich trifft. Es wird geschlemmt, gelacht und erzählt.
Den ganzen Tag schon sind Nani und seine Tochter in der Küche am vorbereiten. Es duftet herrlich nach Zimt und Orangen. Beides Zutaten des Punsches, der auf der Herdplatte leise vor sich hin köchelt. Neni legt das grosse Buch bereit. Die alte Samichlausmütze gleich daneben. Er freut sich auf das Erzählen. Es macht ihm einen Heidenspass einer Geschichte Leben einzuhauchen. Er liebt seine Fantasiewelten. Alles ist möglich, lautet das Motto. Beim Erzählen vergisst er alles um sich herum. Sogar seinen schmerzenden Rücken. Ja, er hats mit dem Rücken. Nani mit den Ohren. Nur will sie das nicht glauben. Aber Neni hat bemerkt, dass sie sich nicht mehr gerne mit ihren Freundinnen trifft. Sie fängt an das soziale Leben zu meiden. Traurigkeit erfüllt ihn. Zu Hause nur mit ihm fällt ihre Schwerhörigkeit nicht auf. Schon länger sprechen sie laut miteinander. Das ist inzwischen Gewohnheit. Ob ihr das Weihnachtsfest heute wohl genau so viel Spass bereiten wird wie ihm?
Er beobachtet sie während des Essens. Sie nutzt jede Gelegenheit um aufzuspringen und etwas Vergessenes zu holen. Gut, das hat sie schon immer getan. Nur kommt es ihm heute wie eine Flucht aus dem Geschehen vor. Sie zieht sich aus Gesprächen zurück. Weicht geschickt den Fragen aus. Fällt es sonst niemandem auf?
Nach dem Essen nimmt er Nani mit in die Stube. Sie hat ein wenig Ruhe verdient. Corsin setzt sich auf seinen Schoss. Neni beginnt zu erzählen: "Es war einmal...". Und während er die Spannung seiner Enkelkinder beinahe körperlich spürt, versinkt er mit ihnen in seiner Fantasiewelt. Er beschreibt, wie das Fell der Hasen schimmert und wie die Edelsteine auf dem Schwert die Sonne reflektieren. Er erzählt von Vögeln, Bäumen und Pilzen, die allesamt sprechen können. Von Heldentaten und Liebe. "Und so leben sie glücklich bis in alle Ewigkeit."
Neni schaut in die grossen, leuchtenden Augen seiner Enkelkinder. Dieser Moment ist sein schönstes Weihnachtsgeschenk. Sein Blick fällt auf Nani. Sie hat diesen einen Ausdruck. Er kennt das Gesicht, sie konzentriert sich auf etwas. Lautes Gelächter erschallt von der Küche. Erst jetzt fällt ihm auf, dass er die Tür hinter sich nicht geschlossen hat. Wieviel sie von seiner Geschichte wohl verstanden hat?
Er wünscht sich vom Christkind seine lebenslustige Frau zurück. Wann sie sich wohl endlich zum Hörtest anmelden wird?