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Das Nani

20.12.2020

Eigentlich hat sie sich auf Weihnachten gefreut. Aber irgendwie wird das jetzt alles zu viel.

Alle sitzen bester Laune am Tisch. Es wird berichtet, gefragt und gelacht. Nani fällt es schwer dem Gespräch zu folgen. Das Klappern mit Messer und Gabel, die hohen Kinderstimmen - alles verschwimmt zu einem unangenehmen Rauschen. Was? Hat sie jemand angesprochen? Warum nur hört sie, aber versteht nicht mehr gut? Dankbar nutzt sie jede Gelegenheit aufzustehen, um dem Stimmengewirr zu entfliehen.

Nach dem Essen geht sie mit Neni und den Kindern in die Stube. Es ist Zeit für seine Weihnachtsgeschichte. Nani sieht die Vorfreude auf den Gesichtern. Ihr Neni strahlt, das ist seine Welt. Mit seiner Samichlausmütze sieht er jünger aus. Er zwinkert ihr verschmitzt zu. In solchen Momenten weiss sie, warum sie sich damals in ihn verliebt hat. Und ihn heute noch liebt. Freudige Erwartung macht sich breit. Das Gefühl ist so stark, dass sie Gänsehaut bekommt. "Bibalihuut", wie ihre Enkelkinder sagen.

"Es war einmal...", beginnt Neni. Diese Worte kennt sie in und auswendig, jede seiner Geschichten fängt damit an. Gerade, als Nani in die Fantasiewelt eintauchen will, lacht jemand. Die Anderen am Küchentisch nehmen das Gespräch von vorhin wieder auf. Ihre Familie spricht gerne laut. Und durcheinander. Nani seufzt. Eigentlich sollte sie jetzt aufstehen und die Tür schliessen, aber die Kinder scheinen vom Lärm nichts wahrzunehmen. Eine Bewegung ihrerseits würde das Zuhören bestimmt stören. Sie beschliesst sitzenzubleiben. Sie probiert sich auf die Wörter ihres Mannes zu konzentrieren. Es fällt ihr schwer. Ihre Gedanken schweifen ab. Der Raclettekäse war dieses Jahr besonders fein. Neni hat am Bauch zugelegt. Oh und die Autovignette darf sie keinesfalls vergessen. Aber, was und wer war denn einmal? Nani spitzt ihre Ohren. Sie versucht es zumindest. Aahhh, wenn sie sich anstrengt kann sie einzelne Wörter verstehen. Wenn die anderen nur nicht so laut reden würden. Mühsam reimt sie sich die Geschichte zusammen, damit sie später mit den Enkelkindern mitreden kann. Letztes Jahr ging das doch irgendwie einfacher. Ob Neni doch Recht hat? Zieht sie sich wirklich langsam zurück? Sie will keine Einsiedlerin sein. Sie möchte sich mit ihrer Familie unterhalten. Vielleicht sogar wieder zu einem Jassabend gehen. Da war letzthin doch ein Inserat in der Zeitung. Wo man Hörgeräte kostenlos testen kann. Nani fügt ihrer Liste in Gedanken eine Pendenz hinzu: Hörtest machen bei Hörsystem KESSLER.

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